„Die Dame hinter dem Vorhang“ – Veronika Peters

Wunderraum
Erschienen (als hochwertig gestaltete HC-Halbleinen-Ausgabe mit Lesebändchen): 23. September 2019
ISBN: 978-3-336-54808-8
283 S.
20,00 €



Mood

🤔🛀🏻💔



Content

„Sie kam 1887 auf einem Adelssitz zur Welt und durfte doch nie Prinzessin sein. Mit zwölf steckte man sie auf Geheiß ihres Vaters für mehrere Monate in eine Streckapparatur, um sie dem Schönheitsideal der Zeit anzupassen. Erfolglos. Edith Sitwell hat geliebt, aber nie geheiratet. Sie wuchs zu einer spitzzüngigen Dichterin und Schriftstellerin heran, lebte ein selbstbestimmtes Leben und machte aus sich ein in Brokat, Seide und Samt gehülltes Gesamtkunstwerk. Reisen führten sie nach Berlin, Paris, Hollywood und New York. Überall wollte man sie sehen, alle Welt wollte mit ihr sprechen. Die berühmtesten Zeitgenossen zählten zu ihren Bekannten, sie wurde unzählige Male von Starfotograf Cecil Beaton porträtiert, war mit Aldous Huxley und Marilyn Monroe befreundet und zelebrierte legendäre Feindschaften mit ihren Kritikern. In ihrem bewegten Leben spiegelt sich das Bild einer Epoche, die sowohl in politischer wie in kultureller und gesellschaftlicher Hinsicht von tiefen Brüchen und Umbrüchen geprägt war.“ (Klappentext)



Preview

„Welch ein Abenteuer! An einem Maimorgen im Jahr 1927 verlässt Jane Banister, Enkelin des Gärtners auf Gut Renishaw, den Landsitz der Sitwells. Sie geht nach London, um in den Dienst von Edith Sitwell zu treten, der ungeliebten Tochter des Hauses. Jane hat schon einiges über die exzentrische Dichterin und deren einflussreichen Freundeskreis gehört. Edith gibt in der Hauptstadt Soireen, liebt große Auftritte und hat sogar Kontakte ins Königshaus. Schon bald wird Jane an Ediths Seite die Metropolen der Welt bereisen. Doch als Ediths Vertraute lernt Jane auch die Dame hinter dem Vorhang kennen und den Preis, den das unangepasste Leben fordert.“ (Klappentext)



Review

Vorab sei erwähnt, dass der Roman zum einen das Leben der englischen Dichter-Persönlichkeit Edith Sitwell (1887 bis 1964) basierend auf fundierten historischen Quellen thematisiert, zum anderen aber auch die frei erfundenen Geschichten von Emma und Jane Banister, der Tochter und der Enkelin des obersten Gärtners von Renishaw Hall, mit eingeflochten werden. Das Leben zweier Frauen, Edith und Jane, in zwei unterschiedlichen Welten wird miteinander verknüpft und immer mehr miteinander verwoben, doch gehen sie nie so ganz ineinander über. Edith behandelt Jane stets respektvoll und ist auf sie angewiesen. Dennoch unterscheidet sich ihre Beziehung von einer reinen Freundschaft, da Jane sie bis zu ihrem letzten Lebtag bedient. Edith wahrt außerdem bis zuletzt einen gewissen Abstand zwischen den beiden, einerseits durch die sprachliche Etikette (Jane bezeichnet sie auch nach 38 gemeinsamen Jahren noch als Dame Edith), andererseits durch Janes Tätigkeiten als Hausmädchen, durch die sie ihr per se untergeordnet bleibt. Edith möchte mehr in Jane sehen als nur das Hausmädchen und animiert sie daher des Öfteren zum Schreiben: „… Jane, schreib alles auf, was dir in den Sinn kommt, das Mögliche und das Unmögliche, das Heilige und das Profane, finde die Poesie in den schlichten Ereignissen deines Alltags!“ (S. 134) Oder: „Lies, um der Enge unseres Daseins zu entfliehen, schreib aus dem gleichen Grund!“ (S. 136) Doch Jane ist skeptisch: „… wie viel Poesie sich wohl hinter der rußigen Herdklappe finden lassen würde oder im Geräusch meines auf den Boden klatschenden Wischlappens …“ (S. 134)

Auch das Verhältnis zwischen Edith und Janes Mutter Emma bleibt eher oberflächlich freundschaftlich. Emma kümmert sich um Edith, als diese in der Streckapparatur eingesperrt war, doch eines Tages bricht die Freundschaft abrupt ab. Der Leser erfährt nur andeutungsweise, dass es ein Geheimnis zwischen den beiden gibt, einen stillen Pakt. Erst zum Schluss des Romans wird das Geheimnis gelüftet: Emma ist damals vom Sohn eines Freundes von Ediths Vater vergewaltigt worden. Gemeinsam haben sie beschlossen, der Tochter Jane eine Stellung im Hause der Sitwells anzubieten, damit es ihr in Zukunft gut ergeht.

Obwohl Jane Banister die Erzählerin ist, die dem Leser einen exklusiven voyeuristischen Blick hinter die Kulissen gewährt, nimmt sie sich als Person stark zurück und beschränkt sich weitestgehend auf die Lebensgeschichte Edith Sitwells. Sie schreibt aus ihrer Sicht die Biografie der berühmten Dichterin. Dies hat zur Konsequenz, dass sie ihr eigenes Leben neben dem dieser imposanten Frau bewusst in den Schatten stellt. Sie hat zweifelsohne viele Vorteile durch ihre Anstellung genossen: Sie durfte Berühmtheiten kennenlernen, ist um die Welt gekommen, konnte sich weiterbilden etc. All diese Dinge wären ihr in ihrem Stand ohne Edith nicht ermöglicht worden. Jedoch ist es nicht ihre eigene Geschichte, die sie erzählt. Der Leser erfährt sehr wenig über Janes Charakter und Lebensumstände, z.B. auch nicht, ob sie überhaupt eine eigene Familie gegründet hat. Scheinbar hat sie ihr eigenes Leben freiwillig für Edith geopfert, um an ihrer Seite bleiben zu können. Anders gesehen bedeutet es nicht, dass sie gar kein eigenes Leben hatte, nur weil sie nicht darüber spricht.

Durch die Verwendung von drei verschiedenen Zeitebenen wird die Handlung vielschichtig strukturiert: 1) 1964 zum Zeitpunkt kurz vor Ediths Tod, 2) die Kindheit und Jugend Ediths und die Freundschaft mit Emma, 3) die späteren Jahre zusammen mit der Tochter Jane. An manchen Stellen verschwimmen hingegen die Erzählungen von Mutter und Tochter ineinander, weil ihrer beider Persönlichkeit nicht genügend zum Ausdruck kommt, wodurch sie teilweise auswechselbar wirken.

Der Titel „Die Dame hinter dem Vorhang“ kann mehrdeutig interpretiert werden. Erstens ist natürlich Dame Ediths persönliche Seite gemeint, die der Leser abseits der Bühne kennenlernt. Zweitens ist zugleich Jane gemeint, die Edith mit all ihren Marotten und Schwächen beschreibt, und die hinter den Kulissen als Bindeglied agiert. Drittens wird hiermit auch der Bedienstetenstand im Allgemeinen symbolisiert. Hinter einem Herrschaftshaus zur damaligen Zeit stand auch immer eine Reihe an Dienstboten, die das Anwesen in Schuss gehalten und sich um das Wohl der Besitzer gekümmert haben. Während des zweiten Weltkrieges gab es jedoch einen Bruch, der im weiteren Verlauf der europäischen Geschichte einen umfassenden gesellschaftlichen Wandel, die Verwischung der Standesgrenzen, erwirkt hat. Viele Angestellte wurden entlassen, sodass die Besitzer fortan mehr auf sich allein gestellt waren. Viertens ist Edith selbst es, die als Jugendliche im Anwesen der Eltern wie hinter einem Vorhang versteckt gehalten wurde aufgrund ihres laut der Eltern missratenen äußeren Erscheinungsbildes.

Edith hat es vor den Vorhang geschafft (auch wenn über ihre legendären Auftritte relativ wenig berichtet wird) und sich selbst zum Kunstwerk stilisiert trotz oder gerade wegen ihrer Unsicherheit bezüglich ihres Aussehens. Die Literatur wird für sie während ihrer Kindheit und Jugend zu einem Rettungsanker vor der Ignoranz und Grausamkeit der eigenen Eltern. Die Beschäftigung mit Literatur ist es, die sie „aus dem Würgegriff einer [s]ich verkrüppelnden Kindheit in die heilende Grenzenlosigkeit der freien Sprachmelodie gerettet“ (S. 167) hat. Sie wird zur Mäzenin und Förderin der (Dicht-)Kunst und setzt ihre literarische Position bewundernswert zielstrebig gegen jegliche Kritiker durch. Durch die beruflich bedingte historische Beschäftigung mit Königin Elisabeth vergleicht sie sich später oft mit ihr: Sie „vereinte in sich den Stolz und die unantastbare Schönheit des Pfaus sowie den feinen Geist einer bedingungslos Liebenden, deren überragende Liebesfähigkeit keinen Ausdruck in der körperlichen Vereinigung finden durfte. Alles opferte sie für ihre Berufung […] Aber sie war auch eine unerbittlich kämpfende Löwin, wenn es darum ging, für ihre Überzeugungen einzustehen.“ (S. 247) Auch in einem Gespräch mit Marilyn Monroe in Hollywood wird ihre innere Willensstärke deutlich: „Frauen wie Sie und ich, die mit einer gewissen, andere Menschen mitunter irritierenden Intelligenz gesegnet sind, müssen dagegen aufbegehren, etwas darzustellen, das nicht unserem Wesen entspricht. Das ist unsere einzige Chance zu überleben, weil wir sonst ersticken an den seelenlosen Maschinerien, in die man uns zwingen will.“ (S. 262)

Edith und Jane sind sich in einer Hinsicht doch ähnlicher als gedacht, sie opfern beide mehr oder weniger ihr Privatleben für ihre Berufung.

Allerdings ist eine Sache in ihrer Biografie bedauernswert: Obwohl sie im Laufe ihrer Karriere weltberühmt wird und andere Künstler unterstützt, ist sie zeitlebens ebenfalls auf finanzielle Unterstützung von anderen angewiesen. Sogar in ihrem letzten Lebensjahr muss sie sich noch mit der Frage auseinandersetzen, wie sie ihre Rente finanzieren soll, und zwar durch den Verkauf ihrer für sie so wertvollen Porträts.

Diese Porträts hat der russische Maler Pavel Tchelitchew von ihr während ihrer Karriere angefertigt. Sie ist dem Bojaren – wie sie ihn nennt – regelrecht verfallen. Blind vor Liebe begeht sie den größten Fehler, den sie machen kann: Sie läuft ihm hinterher und überschüttet ihn mit finanziellen Zuwendungen für seine Kunst. Dieser ist scheinbar in erster Linie an der künstlerischen Unterstützung interessiert, nicht aber an ihrer Person selbst. Je näher sie ihm kommt, desto weiter weg flieht er vor ihr, bis er ihr eines Tages vor versammelter Mannschaft unmissverständlich zu verstehen gibt, dass er sie nicht liebt und sie ihn einengt. Abgesehen davon scheint er offenkundig homosexuell oder zumindest bisexuell zu sein, doch Edith ignoriert diesen Sachverhalt geflissentlich, und nicht weniger die Tatsache, dass er ihr gegenüber – wie es aus den Erzählungen angedeutet wird – einmal gewalttätig geworden ist. Vielmehr sieht sie in ihm den Einzigen, der sie wahrhaftig gesehen hat, nicht so wie sie andere sehen, sondern wie sie ist. Zeitweise wird sie durch ihn sogar von ihrer Poesie abgelenkt. In diesen Zeiten ist sie nicht mehr sie selbst. Nach seinem Tod ist das ganze Leid wie vergessen und sie verehrt ihn abermals wie einen Helden.

Doch eines kann man ihr nicht nehmen: Noch mit 77 Jahren trägt sie ihre Würde und ihr Sprachgefühl noch mit Stolz, so wie ihre extravaganten Kleider und Schmuckstücke.



Best Quote

„Neue geistige Räume erschlossen sich ihr wie von selbst, niemand konnte, niemand wollte sie mehr davon abbringen, vorbehaltlos für ihre Kunst zu leben.“ (S. 174)



Learning

Nicht jeder hat das Glück oder den Wunsch, seine persönliche Erfüllung in einer Familiengründung zu sehen. Jede Frau (bzw. auch jeder Mann) ist als Mensch vollkommen, egal ob mit Familie oder allein. Die Beschäftigung mit Literatur kann eine von vielen alternativen Möglichkeiten sein, seine Persönlichkeit auszuleben.

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